ICM oder “Independent Chip Model” oder zu deutsch “unabhängiges Chip-Modell” ist ein Begriff, der Turnierspielern unausweichlich über den Weg laufen wird. Hier wollen wir ausführlich erklären, was ICM beim Poker bedeutet und wofür dieses Modell gebraucht wird.
Der Hintergrund zum ICM ist eine ganz einfache Frage: Was ist ein Chip in einem Pokerturnier wert?
Warum ist es wichtig, zu wissen, was ein Chip wert ist?
Für einen Pokerspieler ist es in einem Turnier wichtig zu wissen, wie viel seine Chips grade wert sind, sprich: Wie viel Preisgeld kann er erwarten, mit seinen Chips langfristig zu gewinnen?
Wie sehr lohnt es sich, seinen Stack zu verdoppeln, wie katastrophal ist es, die Hälfte seines Stacks zu verlieren? Solche Fragen sind für einen Turnierspieler essentiell.
Die besondere Natur von Pokerturnieren macht die Antwort hierauf aber gar nicht so einfach, denn doppelt so viele Chips bedeuten keineswegs, dass man einen doppelt so hohen Erwartungswert hat.
Oftmals ist es wichtiger, überhaupt mit ein paar Chips in die Geldränge zu rutschen, als etwas mehr Chips zu haben. Allein an der Anzahl seiner Chips kann man nicht genau ablesen, wie gut es grade um einen im Turnier bestellt ist. Man muss auch wissen, was diese Chips wert sind.
Was ist ein Turnierchip wert?
Betrachten wir die Frage anhand eines Beispiels:
Beispiel-Turnier
Buy-In: $10
Mitspieler: 10
Payouts: 1. $50, 2. $30, 3. $20
Startstack: 1.000 Chips
Wenn jeder Spieler zum Anfang 1.000 Chips bekommt, sind diese anfangs auch genau 10 Dollar wert. Aber mit fortlaufendem Spielverlauf, ändern sich die Wertigkeiten dieser Chips und 1.000 Chips sind mal sehr viel mehr und mal sehr viel weniger als die 10 Dollar wert.
Angenommen ein Spieler schafft es mit Ach und Krach unter die letzten Drei und hat immer noch nur 1.000 Chips, während seine beide Gegner jeweils 4.500 Chips haben. Dann sind diese 1.000 Chips offenbar schon mindestens 20 Dollar wert, denn das Preisgeld für den dritten Platz ist ihm sicher. Selbst wenn er es mit nur einem einzigen Chip unter die letzten drei schaffte, wäre dieser eine Chip immer noch 20 Dollar wert – der Wert der Chips kann also im Laufe des Turniers drastisch steigen.
Gleichzeitig kann der Wert von Chips aber auch fallen: Wer am Ende das Sit-And-Go gewinnt, wird alle 10.000 Chips haben, bekommt aber nur $50 Preisgeld. Seine Chips haben dann also nur einen Wert von $5 pro 1.000 Chips.
Lange Zeit gab es verschiedene Modelle, die versuchten zu erklären, wie viel ein Chip denn nun tatsächlich wert ist. Im hervorragenden, wenn auch sehr theorielastigen Buch Mathematics of Poker wurden verschiedene Möglichkeiten erörtert, Turnierchips einen definitiven Wert zu geben. Am Ende setzte sich das “Independent Chip Model”, kurz ICM, durch.
Wie funktioniert das ICM
Beim ICM schaut man sich die Stacks aller im Turnier verbliebenen Spieler und die Auszahlungsstruktur an. Im Folgenden berechnet man anhand der Stack-Größen für jeden Spieler die Wahrscheinlichkeit, dass er Erster wird. Hier wird einfach angenommen, dass ein Spieler mit X Prozent aller Chips auch in X Prozent aller Fälle das Turnier gewinnt.
Danach wird auf ähnliche Art und Weise für jeden Spieler berechnet, wie wahrscheinlich es ist, dass er Zweiter, Dritter, Vierter, etc. wird1. Danach multipliziert man diese Wahrscheinlichkeiten für jeden Spieler mit den Auszahlungen und hat einen Erwartungswert für jeden Spieler.
Derartige Berechnungen kann man nicht mehr im Kopf anstellen, da schon bei 4 Spielern zig Rechenschritte benötigt werden. Dafür gibt es aber glücklicherweise sehr viele ICM-Poker-Rechner im Netz.
ICM in Turnieren an einem Beispiel
Nehmen wir nochmals obiges Beispiel-Turnier:
Beispiel-Turnier
Buy-In: $10
Mitspieler: 10
Payouts: 1. $50, 2. $30, 3. $20
Startstack: 1.000 Chips
Angenommen, es sind noch 4 Spieler im Turnier und das sind die Chipstände:
Beispiel-Chipstände der letzten 4 Spieler
Spieler 1: 5.000 Chips
Spieler 2: 2.000 Chips
Spieler 3: 2.000 Chips
Spieler 4: 1.000 Chips
Was sind diese Chips nach dem ICM-Modell wert? Dafür gibt man einfach die Daten in einen ICM-Rechner ein und erhält folgendes Ergebnis:
ICM-Wert dieser Chips
Spieler 1: 5.000 Chips ≅ $37,18
Spieler 2: 2.000 Chips ≅ $24,33
Spieler 3: 2.000 Chips ≅ $24,33
Spieler 4: 1.000 Chips ≅ $14,17
Das heißt, wenn alle Spieler gleich gut sind, werden sie auf lange Sicht im Schnitt so viel Preisgeld gewinnen. Spieler 1, mit der Hälfte aller Chips, kann mit deutlich mehr als dem Preisgeld für Platz 2 rechnen, Spieler 2 und 3 immerhin noch mit etwas mehr als dem Preisgeld für Platz 3 und selbst Spieler 4, der die wenigsten Chips hat, kann auf lange Sicht noch mit ein wenig Preisgeld rechnen.
Wozu ist ICM nun gut?
Wie kann einem ICM nun helfen, sinnvolle Entscheidungen in Turnieren zu treffen?
Dafür betrachten wir wieder das obige Beispiel, tun der Einfachheit halber einfach mal so als gäbe es keine Blinds und versetzen uns in eine konkrete Situation:
Beispielsituation in einem Turnier
Spieler 1: 5.000 Chips
Spieler 2: 2.000 Chips
Spieler 3: 2.000 Chips
Spieler 4: 1.000 Chips
Spieler 4 foldet, Spieler 1 foldet, Spieler 2 geht all-in (2.000 Chips), Spieler 3 hält A 9 und ???
Spieler 3 sieht sich einem All-in ausgesetzt und was soll er nun machen? Nehmen wir einmal an, er kennt seinen Gegner, Spieler 2, sehr gut und schätzt ein, dass er hier recht häufig blufft und nur manchmal eine bessere Hand hat. Insgesamt rechnet Spieler 3 damit, dass er in 60 Prozent aller Fälle den Showdown gewinnt, wenn er callt.
Sollte er das All-In also callen?
Drei Dinge können jetzt passieren: 1. Spieler 3 foldet (an den Chipständen ändert sich nichts), Spieler 3 callt und gewinnt (Spieler 3 hat nun 4.000 Chips, Spieler 2 ist raus), Spieler 3 callt und verliert (Spieler 2 hat nun 4.000 Chips, Spieler 3 ist raus).
Für jede dieser neuen Chip-Konstellationen kann man den ICM-Erwartungswert ausrechnen:
Erwartungswerte nach Fold und Call
Spieler | Chips nach Fold | EV | Chips nach Call und Sieg | EV | Chips nach Call und Niederlage | EV |
Spieler 1 | 5.000 | $37,18 | 5.000 | $38,89 | 5.000 | $38,89 |
Spieler 2 | 2.000 | $24,33 | 0 | $0 | 4.000 | $36,44 |
Spieler 3 | 2.000 | $24,33 | 4.000 | $36,44 | 0 | $0 |
Spieler 4 | 1.000 | $14,17 | 1.000 | $24,67 | 1.000 | $24,67 |
Sprich: Wenn Spieler 3 callt und gewinnt, haben seine 4.000 Chips einen Erwartungswert von $36,44. Wenn er aber callt und verliert, hat er keine Chips mehr und sein Erwartungswert ist $0.
Da Spieler 3 einschätzen kann, wie häufig er den Showdown gewinnt (60 Prozent), kann man seinen Erwartungswert für einen Call einfach ausrechnen:
EV = 60% * $36,44 + 40% * $0 = $21,86
Im Schnitt hat er nach einem Call also einen Erwartungswert von $21,86. Wenn er foldet, hat er allerdings einen Erwartungswert von $24,33 – rund $2,47 mehr!
Das heißt: in dieser konkreten Beispielsituation rät das ICM zu einem Fold obwohl der Spieler im Schnitt eine deutlich bessere Hand als sein Gegner hat.
Warum ist ein Fold in dieser Situation besser, wenn der Spieler doch klarer Favorit in der Hand ist?
Profan ausgedrückt, ist der Shortstack, Spieler 4, schuld. Für Spieler 3 ist es wesentlich profitabler, abzuwarten, bis dieser ausscheidet, anstatt vorher alle Chips in Gefahr zu bringen. Wenn Spieler 3 einfach abwartet, hat er zumindest das Preisgeld für Platz 3 sehr wahrscheinlich sicher, aber wenn sich Spieler 3 jetzt auf ein All-In einlässt, gibt es eine sehr realistische Chance, dass er ohne Auszahlung ausscheidet.
Diese Überlegung berücksichtigt das ICM und rät deswegen zum Fold.
Wie nutzt man ICM?
Nun kann man derartige Berechnungen nicht einfach so am Tisch anstellen, aber dafür gibt es zahlreiche ICM-Trainer im Netz, bei denen man anhand von Beispielsituationen derartige Szenarien durchspielen kann. Hier ein paar Tipps zum korrekten Spiel nach ICM:
- Das ICM rät immer dazu, dass man in Turnieren tighter callen sollte als in Cash-Games.
- Nach dem ICM ist der erste Chip den man hat, immer der wertvollste. Eine Verdopplung des Stacks ist immer weniger als doppelt so wertvoll.
- Das ICM hat die stärksten Auswirkungen kurz vor der Bubble und bei Preisgeldsprüngen im Turnier.
- Nach dem ICM sollte man knappen All-Ins möglichst aus dem Weg gehen, wenn Spieler mit weniger Chips im Turnier sind.
- Auf Coinflips oder All-Ins bei denen man nur knapper Favorit ist, sollte man mit einem mittelgroßen Stack vor der Bubble unbedingt verzichten und lieber folden.
- Spieler mit großen Stacks sollten Spielern mit mittelgroßen Stacks sehr häufig mit All-Ins drohen, da diese nach ICM nur mit sehr wenigen Händen callen können.
- Haben die Gegner ein ICM-Verständnis (oder spielen generell sehr tight), sollte man besonders häufig mit All-Ins drohen.
- Haben die Gegner kein ICM-Verständnis (oder callen generell sehr loose), sollte man selbst auch deutlich tighter werden.
Die Grenzen von ICM beim Poker
Das Independent Chip Model ist im Moment die beste bekannte Methode, um die Wertigkeit von Chips exakt zu bemessen, aber das ICM ist auch nicht frei von Nachteilen. Einige dieser sind:
- Das ICM berücksichtigt nicht die Position eines Spielers (ein 4-Big-Blind-Stack auf dem Button ist im Allgemeinen viel mehr wert als ein 4-Big-Blind-Stack in erster Position).
- Das ICM berücksichtigt nicht die Spielfähigkeit der Spieler.
- Das ICM berücksichtigt keine möglichen zukünftigen Entwicklungen (manchmal ist es besser, auf eine knapp profitable Situation zu verzichten, da sich später eventuell noch bessere auftun werden).
- Ganz grob zusammengefasst berechnet das ICM die Erwartungswerte aller Spieler, wenn sie einfach alle blind all-in gehen, bis nur noch ein Spieler übrig ist.
Sehr häufig genutzt wird das ICM, wenn in Turnieren Deals ausgehandelt werden, denn es ist das fairste (bislang bekannte) Modell, den Stacks der Spieler einen konkreten Wert zu geben. Wer also einmal in die Situation kommt, in einem Turnier einen Deal aushandeln zu wollen, dem sei ein ICM-Rechner ans Herz gelegt.
Die besten von PokerOlymp getesteten Pokerseiten
Diese Pokerseiten haben in unserem Test am besten abgeschnitten:
» So haben wir die Pokerseiten getestet
Dieser Artikel erschien auf PokerOlymp am 09.02.2014.
1 Diese Berechnungen werden allerdings ungleich komplizierter. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Spieler den zweiten Platz erreicht, wird errechnet, indem man sich alle Fälle anschaut, in welchen der Spieler nicht gewinnt. Hier wirft man jeweils die Stacks des Siegers raus und ermittelt die Wahrscheinlichkeit, dass der Spieler Zweiter wird über den Anteil seiner Chips an den verbliebenen Chips und addiert alle Wahrscheinlichkeiten gewichtet zusammen. Ebenso geht man für die weiteren Plätze vor.