Sollte man in frühen Phasen von Pokerturnieren auf kleine Edges verzichten, um das Risiko eines Busts zu umgehen? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein guter Spieler in einem Turnier seinen Stack verdoppelt und wie oft muss man seinen Stack überhaupt verdoppeln, um ein Turnier zu gewinnen?
Diese Fragen zum Turnierpoker soll dieser Artikel ein wenig mathematisch beleuchten und am Ende ein paar praktische – wenn auch recht allgemein gehaltene – Tipps zum erfolgreichen Turnierspiel bieten.
Eine einfache Wette
Wir fangen mit einer ganz einfachen fiktiven Wette an, um uns der Frage nach Edge und ROI zu nähern.
Ich sitze in meiner Lieblingsspielbank und spiele mein samstägliches 50-Euro-Turnier. Mit mir sind insgesamt 200 Spieler anwesend und die ersten Level laufen bei mir ganz manierlich: ich habe aus dem Startstack von 5.000 Chips 12.000 gemacht.
In der ersten Pause tritt ein Bekannter an mich ran, erzählt, dass er bereits ausgeschieden ist und liefert die dazugehörige und ziemlich langweilige Bad-Beat-Geschichte. Danach fragt er, wie es bei mit steht und stolz erzähle ich von meinen 12.000 Chips.
Daraufhin bietet mir mein Bekannter folgende Wette an: “Ich wette meine 40 gegen deine 60 Euro, dass du ausscheidest, bevor du deine Chips auf 24.000 verdoppeln kannst.”
Sollte ich diese Wette annehmen? Sonderlich gute Quoten bietet mir mein Bekannter nicht grade (40 Euro Gewinn gegen 60 Euro Einsatz), aber ich rechne mir aus, dass ich einer der besseren Spieler in diesem Turnier bin. Tatsächlich weiß ich, dass ich in diesen Turnieren einen ROI von 75 Prozent habe (sprich: auf 100 Euro Einsatz gewinne ich im Schnitt 175 Euro). Dementsprechend sollte es doch sehr viel wahrscheinlicher sein, dass ich meinen Stack verdopple, bevor ich ausscheide.
Also müsste diese Wette trotz der mageren Quoten für mich gewinnbringend sein.
Ob dem tatsächlich so ist, soll hier erörtert werden.
Wie oft muss ich meinen Stack verdoppeln, um ein Turnier zu gewinnen?
Bevor wir auf die Frage nach der Wette – die übrigens weit wichtigere Implikationen hat – eingehen, werfen wir kurz einen allgemeinen Blick auf Verdopplungen in Turnieren und fragen: Wie oft muss man seinen Stack verdoppeln, um ein Turnier zu gewinnen?
Wie oft muss ich meinen Stack verdoppeln, um ein Turnier mit sehr vielen Teilnehmern zu gewinnen?Angenommen, ich spiele in einem Turnier mit 200 Mitspielern und das Turnier hat grade angefangen. Ich habe, wie alle anderen Spieler auch, 5.000 Chips und möchte gerne wissen, wie oft ich meinen Stack wohl verdoppeln muss, um das Turnier am Ende zu gewinnen.
Insgesamt sind 200 mal 5.000 Chips im Spiel, das macht 1.000.000 Chips. Gewonnen habe ich, wenn ich alle diese Chips habe. Also: Wie oft muss ich meine 5.000 Chips verdoppeln um auf 1.000.000 zu kommen.
Hier hilft ein wenig Mathematik weiter: man nimmt einfach den log 2 200 (Anzahl der Spieler) und kommt auf das Ergebnis: 7,6. Erstaunlicherweise muss ich meinen Stack nur rund acht Mal verdoppeln und schon habe ich das Turnier gewonnen.
Ähnlich stellt sich das bei anderen Turnieren dar. Wir haben die Anzahl der nötigen Verdopplungen bis zum Sieg für ein paar Teilnehmerfelder einmal ausgerechnet:
Turnier | Spieler | Verdopplungen |
Sit-And-Go | 9 | 3,2 |
WSOP One Drop | 45 | 5,5 |
Turnier im Kasino nebenan | 200 | 7,6 |
Sunday-500 | 700 | 9,5 |
EPT Main-Event | 1.000 | 10,0 |
Sunday Million / WSOP ME | 6.500 | 12,7 |
Sunday Storm | 35.000 | 15,1 |
Bei einem einfachen Sit-And-Go muss ich meinen Stack nur gut drei Mal verdoppeln und schon hab ich alle Chips, bei einem größeren Live-Turnier zwischen 8 und 12 Mal und bei einem riesigen Online-Turnier mehr als 15 Mal.
Diese Zahlen klingen zwar erst einmal recht klein, aber es darf jeder gerne einmal probieren, eine Münze 15 Mal zu werfen und jedes Mal Kopf zu treffen. Das entspräche ungefähr der Wahrscheinlichkeit 15 Verdopplungen zu schaffen ohne auszuscheiden und ein Turnier wie den Sunday Storm zu gewinnen.
Theorie der Stack-Verdopplung
Kommen wir jetzt zu der eingangs erwähnten Wette zurück: Ich sitze also mit 12.000 Chips in einem Turnier, das 200 Mitspieler hat. Ich kenne meinen ROI (75%) und möchte nun gerne wissen, wie wahrscheinlich es ist, dass ich meinen Stack verdopple, bevor ich ausscheide.
Mathematics of PokerAn dieser Stelle setzt sie Theorie der Stack-Verdopplung aus dem großartigen Buch Mathematics of Poker an. Die Theorie hat eine einzige recht plausible (wenn auch das Turniergeschehen etwas vereinfachende) Grundannahmen:
– Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Spieler seinen Stack verdoppelt, bevor er ausscheidet, ist für diesen Spieler über das gesamte Turnier konstant.
Mit dieser einfachen Grundannahme lässt sich eine Formel entwickeln, die aus dem ROI eines Spielers seine Verdopplungswahrscheinlichkeit berechnet.
Dafür benötigt man nur ein den ROI des Spielers ( r), die Anzahl der Spieler im Turnier (s) und ein wenig Mathematik1 (siehe Mathematics of Poker Seiten 323f.):
r: ROI in Prozent
s: Anzahl der Spieler des Turniers
p: Wahrscheinlichkeit für Verdopplung vor Bust
Diese Formel gibt an, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Spieler mit einem ROI von r in einem Turnier mit s Mitspielern seinen Stack verdoppelt, bevor er ausscheidet.
Für einen Spieler mit einem ROI von 0% kommt – unabhängig von der Anzahl der Mitspieler – immer eine Verdopplungswahrscheinlichkeit von 50% raus. Das liegt nahe, denn ein Spieler, der keine Edge auf das Feld hat, hat eine 50/50-Chance seine Stack zu verdoppeln oder auszuscheiden.
Für Spieler mit einem positiven ROI liegt die Verdopplungswahrscheinlichkeit über 50% – auch das ist naheliegend, denn ein guter Spieler sollte etwas häufiger seinen Stack verdoppeln, anstatt auszuscheiden.
Nehmen wir meine Zahlen aus dem obigen Turnier: 200 Spieler und ein ROI von 75%. Dann liegt meine Verdopplungswahrscheinlichkeit nach dieser Formel bei 53,8 Prozent.
Sprich: zu einem beliebigen Zeitpunkt in dem Turnier liegt meine Wahrscheinlichkeit, meinen Stack zu verdoppeln bei rund 54 Prozent und die Wahrscheinlichkeit, vorher auszuscheiden bei 46 Prozent.
Das ist immer noch fast 50/50, obwohl ich einen überdurchschnittlichen ROI von 75 Prozent habe! Und es beantwortet die Frage zu der Wette: Die Wette ist für mich krass nachteilig. Bei Odds von 60:40 sollte ich diese nicht annehmen.
Verdopplungen und gute Spieler
Warum ist in diesem Beispiel meine Verdopplungswahrscheinlichkeit so niedrig, trotz einen vergleichsweise hohen ROIs von 75 Prozent?
Die Antwort ist relativ einfach: Die Egde eines guten Spielers ist in Einzelsituationen immer recht klein, aber je mehr Mitspieler ein Turnier hat und je länger es dauert, umso mehr Möglichkeiten hat der Spieler, seine Edge zum Tragen zu bringen. Und wenn man sehr oft eine kleine Edge addiert, kommt irgendwann ein guter ROI raus.
Wir haben nach obiger Formel die Verdopplungswahrscheinlichkeiten für Spieler mit verschiedenen ROIs in unterschiedlich großen Turnieren ausgerechnet:
Spieler ROI | -50% | 0% | 25% | 50% | 75% | 100% | 200% |
9 | 40,2% | 50,0% | 53,6% | 56,8% | 59,7% | 62,2% | 70,7% |
45 | 44,1% | 50,0% | 52,1% | 53,8% | 55,4% | 56,7% | 61,1% |
200 | 45,7% | 50,0% | 51,5% | 52,7% | 53,8% | 54,7% | 57,7% |
700 | 46,5% | 50,0% | 51,2% | 52,2% | 53,0% | 53,8% | 56,2% |
1.000 | 46,6% | 50,0% | 51,1% | 52,1% | 52,9% | 53,6% | 55,8% |
6.500 | 47,3% | 50,0% | 50,9% | 51,6% | 52,3% | 52,8% | 54,5% |
35.000 | 47,8% | 50,0% | 50,7% | 51,4% | 51,9% | 52,3% | 53,8% |
Diese Tabelle zeigt Erstaunliches:
– Ein Spieler mit einem ROI von 0% hat immer eine Verdopplungswahrscheinlichkeit von 50% (das ist noch nicht so erstanulich).
– Ein Spieler mit einem ROI von -50% (also jemand, der auf lange Sicht die Hälfte seiner Einsätze verliert) hat in Turnieren mit 700 oder mehr Spielern immer noch eine Verdopplungswahrscheinlichkeit von mindestens 46 Prozent.
– Ein Spieler mit einem sagenhaften ROI von 200% (also jemand, der im Schnitt seine Einsätze verdreifacht) hat bei Turnieren mit 700 oder mehr Spielern eine Verdopplungswahrscheinlichkeit von 56 Prozent oder weniger.
Vanessa SelbstNimmt man zum Beispiel eine Spielerin wie Vanessa Selbst von der man mit Fug und Recht behaupten dürfte, dass sie in großen Turnieren einen ROI von 100 bis 200 Prozent hat und setzt sie ins Main-Event der WSOP (rund 6.500 Spieler). Dann liegt die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihren Stack verdoppelt, bevor sie ausscheidet irgendwo zwischen 53 und 55 Prozent. Oder anders ausgedrückt: Zu jedem Zeitpunkt im Turnier liegt die Wahrscheinlichkeit, dass Vanessa Selbst ausscheidet, bevor sie ihren Stack verdoppeln kann, bei 45 bis 47 Prozent. Fast 50/50, trotz mächtig gewaltigem ROI!
Verdopplungen und lebenspraktische Turniertipps
Abgesehen davon, dass man mit der Theorie der Stack-Verdopplung Wetten zum baldigen Ausscheiden einschätzen kann, hat der ganze Zinnober auch praktische Auswirkungen auf das Spiel im Turnier.
Wie oft hat man nicht schon folgenden Satz von Turnierspielern gehört: “Ja, ich war hier +EV, habe in dem Spot aber aufgegeben, weil ich eine noch viel größere Edge auf das Feld habe.”
Spieler verzichten auf an und für sich profitable Situationen, weil sie das Risiko des Busts nicht eingehen wollen, da sie sich eine größere Edge in der Zukunft ausmalen.
In vielen Fällen ist das Bogus.
Nehmen wir ein einfaches Beispiel: In der sehr frühen Phase eines Turniers mit 1.000 Mitspielern (etwa einem EPT-Main-Event) bekommt ein Spieler im Big Blind Damen. Alle folden zum Small Blind und dieser geht für 200 BB all-in. Der Small Blind hat unseren Spieler im Big Blind knapp gecovert und dreht aus Versehen seine Hand um: Ass-König.
Sollte der Spieler mit den Damen sich jetzt auf diesen Coinflip einlassen? Viele Spieler würden dies verneinen, denn schließlich besteht eine sehr große Chance, einfach auszuscheiden.
Die Damen haben gegen Ass-König eine Gewinnwahrscheinlichkeit von 56 Prozent. Zu 44 Prozent scheidet der Spieler mit den Damen aus (die 0,4% Split-Pot ignorieren wir einfach mal).
Wie groß muss jetzt die Edge des Spielers mit den Damen sein, um diesen “Coinflip” nicht eingehen zu wollen? Ein Blick in obige Tabelle zeigt, dass man erst ab einem ROI von über 200 Prozent eine höhere Verdopplungswahrscheinlichkeit hat. Für alle normalsterblichen Spieler (die einen deutlichen niedrigeren ROI haben), sollte diese Situation ein Instacall sein.
Ja, man scheidet zwar zu 44 Prozent aus, aber die Situation ist immer noch (teilweise deutlich) besser als die Edge der allermeisten Spieler.
Das Beispiel mag zwar etwas konstruiert sein, aber in Turnieren trifft man beständig auf ähnliche, vergleichbare Konstellationen: Man ist in knappen Situationen und steht vor entscheidenden Fragen, etwa einen gewaltigen Bluff durchziehen, einen sehr lighten Call zu machen, preflop seinen Stack in unklarer Lage zu versenken oder Ähnliches.
Wann immer man sich auch nur eine kleine Edge dabei ausrechnet (etwa 55%), sollte man derartige Situationen annehmen, denn diese kleinen Edges sind ein großer Teil dessen, was einen hervorragenden ROI ausmacht.
Das ist einer der Gründe, warum man so viele professionelle Pokerspieler regelmäßig bei Turnieren auf des Messers Schneide tanzen sieht. Für einen Außenstehenden mag das Geschehen wie wildes Spiel und verrücktes Risiko aussehen, aber tatsächlich sind diese irren All-Ins, Bluffs und Calls das Ausnutzen einer kleinen 55%-Prozent-Edge. Und wer oft genug diese Situationen produziert (und das nötige Glück hat, all die 55/45-Situationen zu überstehen), fährt langfristig die höchsten Gewinne ein.
Der kleine Unterschied zwischen Gewinnern und Verlierern
Auch zeigen diese Zahlen, dass nicht viel dazugehört, in Turnieren langfristig ein deutlicher Verlierer zu sein. Ein Spieler mit einem ROI von -50%, der also die Hälfte seiner Einsätze verliert, hat bei 1.000 Mitspielern eine Verdopplungswahrscheinlichkeit von rund 47 Prozent. Sprich: Im Schnitt wird dieser Spieler seine Chips in 47/53–Situationen unterbringen – nur minimal schlechter als ein 100%-ROI-Spieler (der wäre bei 54/46). Aber dieser kleine Unterschied in einzelnen Situationen macht einen krassen Unterschied bezogen auf das gesamte Turnier aus.
Einen schlechten von einem guten und einen guten von einem hervorragenden Spieler unterscheidet in einzelnen Situationen nicht sonderlich viel. Aber ein paar Prozentpunkte Edge machen bei Pokerturnieren am Ende eine Welt aus und deswegen ist es extrem wichtig, diese kleine Edge so oft wie möglich zu forcieren und sein Spiel – auch in Kleinigkeiten – stets zu verbessern.
1 Die Überlegungen ziehen ICM nicht in Betracht und die Formel gilt für Winner-Takes-All-Turniere. Für Entscheidungen deutlich vor der Money-Bubble sind diese jedoch (zumindest mathematisch) zu regulären Turnieren identisch. Bei regulären Turnieren liegen die Verdopplungswahrscheinlichkeiten minimal weiter weg von 50% als bei Winner-Takes-All-Turnieren.
Dieser Artikel erschien auf PokerOlymp am 11.04.2016.