Wie soll ich auf der Bubble spielen, kann man Asse folden und wie funktioniert ICM? In diesem Artikel wird das Independent Chip Modell an drei Beispielen illustriert.
» Was das ICM-Modell bei Pokerturnieren ist und wie es funktioniert haben wir bereits dargelegt. Hier wollen wir uns drei anschauliche Beispiele vornehmen, die den Unterschied von Chip-Erwartungswert und ICM erklären:
Beispiel 1: Sit-and-Go-Bubble
Zunächst ein klassisches Beispiel aus einem Sit-And-Gos während der Bubble-Phase.
In folgender Hand sind wir Spieler 4, haben den zweitkleinsten Stack im Turnier und sitzen mit einer ordentlichen Hand (Ass-Zehn) im Big Blind. Vom Button aus geht der zweitgrößte Stack all-in und der Shorty im Small Blind foldet.
Blinds: t100/t200, t25 Ante
Auszahlungsstruktur: 1. €50, 2. €30, 3. €20, 4. €0
UTG: Spieler 1 (t3.200)
BU: Spieler 2 (t2.800)
SB: Spieler 3 (t1.200)
BB: Spieler 4 (t1.800): A 10
Preflop: Spieler 1 foldet, Spieler 2 geht all-in (t2.775), Spieler 3 foldet, Spieler 4 …?
Was sollten wir hier mit Ass-Zehn machen?
Schaut man sich nur die Pot-Odds an, sieht es nach einem ziemlich deutlichen Call aus: Wir müssen nach Blinds und Antes nur 1.575 Chips nachzahlen, um einen Pot in Höhe von 3.750 Chips zu gewinnen. Demnach müssen wir im Showdown nur in rund 42 Prozent der Fälle gut sein, um profitabel zu callen. Die Range (siehe » Was sind Ranges? ) des Gegners muss schon quietsche-tight sein, damit wir nicht callen können.
Nach Chip-Erwartungswert haben wir also einen klaren Call.
Aber – auch wenn Chips bei Turnieren ein integraler Bestandteil sind – man spielt ein Turnier, um möglichst viel Geld zu gewinnen, nicht möglichst viele Chips. Und wie viel man bei einem Turnier gewinnt, ist nicht direkt an den Chips abzulesen. Dazu brachten wir vor kurzer Zeit bereits einen Artikel (» Was sind Chips wert oder was ist ICM? ) und in so einer Situation ist das ICM-Modell ein wesentlich besserer Indikator, was zu tun ist, als der reine Chip-Erwartungswert.
Schauen wir uns also einmal an, was bei den folgenden drei Optionen mit unserem Chipcount passiert und wie dieser nach ICM bewertet wird. Die drei Optionen sind: 1. wir folden, 2. wir callen und gewinnen den Showdown, 3. wir callen und verlieren den Showdown.
Über einen ICM-Rechner kann man die jeweiligen Erwartungswerte berechnen und wir haben das hier schon einmal vorbereitet (die Tabelle zeigt die Anzahl der Chips im jeweiligen Szenario und die dazugehörigen ICM-Erwartungswerte in Klammern):
Spieler | Chips nach Fold | Chips nach Call und Sieg | Chips nach Call und Verlust |
Spieler 1 | 3.175 (€31,63) | 3.175 (€32,35) | 3.175 (€36,10) |
Spieler 2 | 3.175 (€31,63) | 1.000 (€15,98) | 4.750 (€38,70) |
Spieler 3 | 1.075 (€15,48) | 1.075 (€17,03) | 1.075 (€25,20) |
Spieler 4 | 1.575 (€21,25) | 3.750 (€34,64) | 0 (€0,00) |
Wenn wir folden, haben unsere verbleibenden 1.575 Chips einen Wert von €21,25. Wenn wir callen und gewinnen haben wir 3.750 Chips und diese sind €34,64 wert. Aber wenn wir callen und verlieren, sind wir ausgeschieden, haben keine Chips und diese haben einen Wert von €0.
Damit kann man ein zweites Mal ausrechnen, wie häufig wir den Showdown gewinnen müssen, um (jetzt nach ICM) profitabel callen zu können. Dazu nehmen wir diese Formel:
wobei
ef: ICM-Erwartungswert bei Fold
ew: ICM-Erwartungswert bei Call und Sieg im Showdown
el: ICM-Erwartungswert bei Call und Niederlage im Showdown
p: nötige Gewinnwahrscheinlichkeit für profitablen Call
Setzt man die Werte aus obiger Tabelle für Spieler 4 (also für uns) in diese Formel ein, ergibt sich für p (unsere nötige Gewinnwahrscheinlichkeit) ein Wert von 61 Prozent.
Sprich: Wenn wir auf lange Sicht Geld mit dem Call verdienen wollen, müssen wir mindestens eine Gewinnwahrscheinlichkeit von 61% haben.
Es ist relativ evident, dass wir mir Ass-Zehn eine solche Gewinnwahrscheinlichkeit nur gegen eine sehr wilde Range des Buttons haben. Geht der Button mit 25% aller Hände all-in, haben wir nur 56% Gewinnwahrscheinlichkeit. Geht der Button mit 50% seiner Hände all-in, haben wir 59% Gewinnwahrscheinlichkeit – immer noch zu wenig, um nach ICM profitabel callen zu können.
Damit wird ein Call, der nach reinem Chip-Erwartungswert noch glasklar war, auf einmal sehr fragwürdig bis falsch.
Beispiel 2: Big-Stacks und die 10%-Regel
Im nächsten Beispiel wollen wir uns die 10%-Regel von Dan Harrington in einem konkreten Fall ansehen. Diese besagt, dass man als Super-Big-Stack in den späten Phasen eines Turniers All-Ins für 10% seines Stacks mit zwei beliebigen Karten callen kann.
Wir nehmen wieder die selbe Situation wie in Beispiel 1 (Sit-And-Go direkt auf der Bubble), ändern aber die Stacks und unsere Hand:
Blinds: t100/t200, t25 Ante
Auszahlungsstruktur: 1. €50, 2. €30, 3. €20, 4. €0
UTG: Spieler 1 (t1.800)
BU: Spieler 2 (t500)
SB: Spieler 3 (t1.200)
BB: Spieler 4 (t5.500): J 6
Preflop: Spieler 1 foldet, Spieler 2 geht all-in (t475), Spieler 3 foldet, Spieler 4 …?
Hier geht auf dem Button ein Ultra-Shorty (mit 2,5 Big Blinds) all-in und wir sitzen mit einer ziemlich marginalen Hand (aber dafür eine Menge Chips) im Big Blind.
Aber wir bekommen so gute Pot-Odds (275 Chips callen, um 1150 Chips zu gewinnen), dass wir den Showdown nur in 24% der Fälle gewinnen müssen, um nach Chip-Erwartungswert profitabel callen zu können.
Was sagt ICM dazu? Hierfür haben wir wieder die ICM-Tabelle vorbereitet:
Spieler | Chips nach Fold | Chips nach Call und Sieg | Chips nach Call und Verlust |
Spieler 1 | 1.775 (€25,64) | 1.775 (€30,44) | 1.775 (€24,84) |
Spieler 2 | 875 (€15,70) | 0 (€0,00) | 1.150 (€18,58) |
Spieler 3 | 1.075 (€18,65) | 1.075 (€26,45) | 1.075 (€17,59) |
Spieler 4 | 5.275 (€40,01) | 6.150 (€43,11) | 5.000 (€38,99) |
Nach obiger Formel ergibt sich, dass wir nach ICM in rund 25% der Fälle den Showdown gewinnen müssen, um profitabel callen zu können.
In diesem Fall unterscheiden sich ICM und Chip-Erwartungswert kaum. Denn wir haben so viele Chips, dass uns der Verlust von 500 Chips fast gar nicht weh tut. Deswegen können wir hier auch mit einer so schwachen Hand wir Bube-Sechs einfach callen1.
Beispiel 3: Krasse Satellite–Situationen
Wirklich in die Kerbe schlagen können ICM-Überlegungen bei Satellites. Da bei diesen Turnieren das Preisgeld für alle Spieler, die die Bubble überstehen, identisch ist, hat es bei diesem Turnieren ab einem bestimmten Punkt praktisch gar keinen Zweck, noch mehr Chips zu akkumulieren. Viel mehr sollte man Situationen, die Chips kosten können, dringend aus dem Weg gehen.
Schauen wir uns dafür ein 10-Mann-Satellite an, bei dem es drei €33-Tickets zu gewinnen gibt. Das Satellite ist mit 4 Spielern an der Bubble und wir sitzen als zweitgrößter Stack im Big Blind mit Assen:
Blinds: t100/t200, t25 Ante
Auszahlungsstruktur: 1-3. €33-Ticket, 4. €0
UTG: Spieler 1 (t500)
BU: Spieler 2 (t4.000)
SB: Spieler 3 (t1.000)
BB: Spieler 4 (t3.500): A A
Preflop: Spieler 1 foldet, Spieler 2 geht all-in (t3.975), Spieler 3 foldet, Spieler 4 …?
Ja, Bombe! Asse und dann geht der Button auch noch all-in. Klarer Call, oder? Hier muss man gar keine Pot-Odds ausrechnen, um zu wissen, dass das nach Chip-Erwartungswert ein eindeutiger Call ist.
Aber wollen wir hier wirklich callen und unser Turnierleben riskieren?
Denn wenn wir callen kann absolut nichts Gutes passieren und es könnte katastrophal enden. Wenn wir den Showdown gewinnen, ist das Turnier immer noch nicht vorbei und wenn wir verlieren, sind wir ausgeschieden, obwohl zwei Spieler mit wesentlich kleineren Stacks dabei sind.
Schauen wir uns also die Erwartungswerte nach ICM einmal an:
Spieler | Chips nach Fold | Chips nach Call und Sieg | Chips nach Call und Verlust |
Spieler 1 | 475 (€12,71) | 475 (€19,24) | 475 (€33,00) |
Spieler 2 | 4.375 (€32,26) | 500 (€20,03) | 7.650 (€33,00) |
Spieler 3 | 875 (€22,38) | 875 (€26,80) | 875 (€33,00) |
Spieler 4 | 3.275 (€31,65) | 7.150 (€32,93) | 0 (€0,00) |
Diese Zahlen muss man sich einmal vergegenwärtigen: Wenn wir folden haben wir einen ICM-Erwartungswert von €31,65. Wenn wir callen und gewinnen sind es €32,39 – grade mal €1,28 mehr. Aber wenn wir callen und verlieren, liegt unser Erwartungswert bei 0!
Nach der Formel aus Beispiel 1 benötigen wir hier eine Gewinnwahrscheinlichkeit von 96%, um profitabel callen zu können. Sechsundneunzig Prozent!
Sprich: In diesem konkreten Fall ist ein Fold mit Assen der richtige Spielzug. Es ist völlig egal, was wir halten. Wenn in einer solchen Situation der Button als Big-Stack all-in geht und wir zweitgrößter Stack sind, während noch mehrere Shorties am Tisch sitzen, brauchen wir unsere Karten gar nicht erst anzusehen – wir können sie einfach blind entsorgen.
ICM beim Poker
Chips einen Wert geben
Mit ICM das eigene Spiel verbessern
Es ist zwar faktisch unmöglich, während des Spiels ICM-Werte auszurechnen, aber es hilft dem eigenen Turnierspiel ungemein, wenn man abseits der Tische regelmäßig Situationen nach ICM analysiert. Dann bekommt man ein gutes Gefühl dafür, wie verschiedene Situationen zu bewerten sind, wenn am Tisch auf diese stößt.
Das ICM-Modell ist zwar keinesfalls perfekt, aber wesentlich besser, um Einschätzungen vorzunehmen als der reine Chip-Erwartungswert. Deswegen sollten Spieler, die sich ernsthaft mit Turnieren beschäftigen, regelmäßig mit ICM-Überlegungen auseinandersetzen.
So lernt man, wie man möglichst erfolgreich in den späten Turnierphasen spielt, wann man besonders tight sein muss und wann es sich lohnt, unanständig aggressiv zu sein.
1 Eine Anmerkung am Rande: in einigen Fällen kann es für den Big-Stack eventuell noch profitabler sein, den Shorty am Leben zu lassen und zu folden. Denn dann kann der Big-Stack in den nächsten Runden die anderen Spieler weiter dominieren und sie zu ICM-Folds zwingen, da sich immer noch ein Super-Shorty im Turnier befindet.
Dieser Artikel erschien auf PokerOlymp am 31.03.2014.