Vor einigen Jahren noch, bevor der Pokerboom um sich gegriffen hat, führte die Selektion der Hole-Cards und korrektes Berechnen von Outs und Odds bereits zu einem deutlichen Vorteil gegenüber den meisten Spielern. Kopfschüttelnd wunderten sich Gelegenheitsspieler immer wieder, warum manche Gegner mit so unglaublicher Regelmäßigkeit den Tisch mit Gewinn verlassen. Es wurde zur Kenntnis genommen. Es wurde gehofft, dass diese „Glückssträhne“ doch einmal enden müsse.
Parallel zu den immer öfter im Fernsehen übertragenen Turnieren, vergrößerte sich das Angebot an Literatur und an informativen Webseiten. Online-Foren tauchten auf. Die wesentlichen Punkte im strategischen Aufbau des Spiels wurden in all ihren Details diskutiert und analysiert. Plötzlich sitzen immer mehr Gegner am Tisch, die ganz genau wissen, was sie tun. Natürlich ist nicht jeder von ihnen ein Experte. Immer wieder schleichen sich Fehler ein. Doch wird der kalkulierbare Vorteil gegenüber dem Durchschnitt immer knapper.
Gerne wird davon erzählt, dass es oft nur ein einziger Fisch ist, der den Tisch mit Geld versorgt. Und was tun wir, wenn sich dieser Fisch nicht zeigt? Sollten wir einfach akzeptieren, dass unter erfahrenen Spielern das Geld hin und hergeschoben wird, solange bis sich ein Gönner einstellt, der zumindest die Rake finanziert?
Finden wir uns in so einer Situation, reicht Basisstrategie bei weitem nicht mehr aus. Erfahrung und Menschenkenntnis gewinnen an Wert. Reads beeinflussen die Entscheidung mehr als Berechnungen. Die Vertrautheit mit den Gewohnheiten der Gegner wird zur wesentlichen Richtlinie. Und unser eigenes Verhalten sollte sich am besten mit einem Begriff beschreiben lassen, der im Börsengeschäft seit jeher bekannt ist: antizyklisch!
Im Vergleich zu anderen Varianten, ist Hold’em ein äußerst transparentes Spiel. Fünf Community-Cards stehen nur zwei verdeckten Hole-Cards gegenüber. Vier Einsatzrunden erlauben Schlüsse auf die Stärke. Der Stack ist das Werkzeug, doch ist es kein Geheimnis, wie wir damit umgehen. Jeder am Tisch kann beobachten, wie wir dieses Werkzeug handhaben, wie oft wir raisen, wie hoch wir raisen, womit wir raisen.
Der letzte genannte Punkt, das Womit, birgt jedoch einen Schlüssel in sich, einen Schlüssel zum Erfolg. Das große Mysterium des Pokerspiels sind die Hole-Cards. David Sklansky hat sich bemüht, eine Fundamentaltheorie des Pokerspiels auszuarbeiten. Sein, mittlerweile bestens bekannter, Schluss: Wer sich so verhält als würde er die gegnerischen Hole-Cards kennen, gewinnt! Und somit wird es zum ersten Ziel, von der Qualität dieser beiden Karten abzulenken. Hier zeigt sich der erste Schritt zu gut angelegten Täuschungsmanövern.
Wir haben gelernt, uns einzuprägen, welcher unserer Gegner mit welchen Karten in welcher Situation raist, callt oder den Pot aufgibt. Wir erkennen die Rocks, von denen wir wissen, dass sie so gut wie nie ein Reraise bringen, wenn sie nicht wirklich eine Premium-Hand vor sich liegen haben. In anderen Fällen haben wir erkannt, dass Reraises oft bloß auf Connectors, auf kleine Pocket-Pairs oder gar auf reine Bluffs beruhen. Dementsprechend treffen wir unsere Entscheidung.Und nach den gleichen Kriterien beurteilen unsere Gegner, ob es sich lohnt, gegen unseren eigenen Angriff zurückzuschlagen.
„Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s gänzlich ungeniert!“ Oder: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er die Wahrheit spricht!“ Haben wir unser looses Image einmal aufgebaut, so nimmt es einige Zeit in Anspruch, bis die Gegner erkennen können, wenn wir um ein paar Gänge zurückschalten. Dieses loose Image ist nämlich keinesfalls ausgelöscht, bloß weil wir zehn oder zwanzig Spiele hintereinander schon vor dem Flop passen. Weiß man, dass wir fähig sind, mit 5 4 zu raisen, wird diese Möglichkeit auch dann ins Auge gefasst, wenn wir A A vor uns liegen haben.
An dieser Stelle möchte ich jedoch auf einen ganz wesentlichen Unterschied zwischen dem Spiel am Live-Tisch und im Internet verweisen. Das verbreitete Multi-Tabling führt mit sich, dass in erster Linie die Karten und nicht die Gegner gespielt werden. Wer an zehn Tischen gleichzeitig sitzt, richtet sich nach den Statistiken aus, die ihm sein Poker-Tracker anzeigt. Er kann den einzelnen Gegner nicht entsprechend im Auge behalten, um auf Feinheiten zu achten.
Wenn ich am Live-Tisch mit Schrott reraise, und diesen Schrott am Ende noch präsentieren muss, ungeachtet, ob als Gewinner oder als Verlierer, dann übt dieser Move auf das weitere Spiel seinen Einfluss aus. Online darf ich damit aber nicht rechnen. Hierzu sei gesagt, dass Advertising im herkömmlichen Sinn im Internet zur Fehlinvestition wird. Poker-Tracker zeigt die Daten der Summe der Aktionen und nicht den Aufbau einzelner.
Zurück an den Live-Tisch. Wenn zwanzig bis maximal dreißig Hände pro Stunde ausgeteilt werden, ist es zwingend, das Maximum aus jeder Möglichkeit herauszuholen. Das Image des Einzelnen wird dabei zum wesentlichen Faktor. Und gleichzeitig, der Langsamkeit des Spielablaufes wegen, dauert es auch entsprechend lange, bis sich die Veränderungen in der Auswahl der Hole-Cards bemerkbar machen. Und genau dieser Punkt bezieht sich auf den Begriff des antizyklischen Verhaltens.
Wichtig ist, dass wir während der aggressiven Phasen keine nennenswerten Verluste aufbauen. Wir können damit solange fortfahren, solange sich regelmäßig kleine Pots klauen lassen. Je massiver die Gegenwehr, desto vorsichtiger werden wir in der Auswahl der Hole-Cards beziehungsweise mit der Fortführung unseres Angriffs. Sobald wir den Eindruck haben, dass wir korrekt eingeschätzt werden, ist es unbedingt nötig, die Strategie zu ändern. Nach längeren Phasen der Zurückhaltung, lässt sich wieder spekulieren und bluffen.
Glaubt man uns das gute Blatt aber plötzlich nicht mehr, dann gibt es für die Asse, die Könige oder das getroffene Set eben richtig Geld. Und, je unauffälliger wir unsere Strategie ändern, je öfter wir Variationen einbauen, desto undurchsichtiger wird unser Spiel. Wenn es mir gelingt, den Gegner halbwegs korrekt einzuschätzen, ich ihm aber keine oder nur falsche Anhaltspunkte erlaube, liegt der Vorteil, im Sinne von Sklanskys Fundamentaltheorie, eindeutig auf meiner Seite.
Dieser Artikel erschien auf PokerOlymp am 05.08.2009.