Tilt tritt in vielen Formen auf und seit den Anfängen meiner Pokerkarriere habe ich mit einigen zu kämpfen gehabt und wenige überwunden. Es gab Zeiten, in denen mich eine Niederlage auf dem River die nächsten zehn Minuten deprimierte und ich im Zuge zunehmenden Tilts deutlich looser wurde. Ich arbeitete an mir und verstand, dass ich gewisse Dinge unter Kontrolle habe und manche nicht, wodurch ich mittlerweile diese spezielle Form des Tilt großteils überwunden habe. Nun kann ich mehrere All-Ins in Folge verlieren, bei denen ich großer Favorit gewesen bin, ohne dass es mich sonderlich quält. Rein mathematisch habe ich mit den Händen die gewünschten Resultate erzielt und was zwischendurch geschieht, spielt keine Rolle.
Gewöhnlich wurde ich auch wütend auf mich, wenn ich einen schweren Fehler beging. Wenn ich bei Limit Hold’em in einem großen Pot auf dem River foldete, als ich nur eine Bet bezahlen musste (ja, tatsächlich mache ich das bisweilen), weil ich von meiner Niederlage überzeugt war, und mir anschließend eine schlechtere Hand gezeigt wurde, war ich unwiderruflich mindestens eine Stunde lang auf Tilt. In der nächsten Hand drehte sich mein innerer Monolog nicht mehr um die Handanalyse, sondern meine unfassbare Dummheit. Schließlich habe ich ein Buch darüber geschrieben, dass man in großen Pots nicht folden soll, oder etwa nicht?! Meine Handanalysen litten darunter.
Doch auch diese Form des Tilts habe ich großteils überwunden. Vielleicht liegt es daran, dass ich mit Pokerspielen nicht mehr meinen Lebensunterhalt bestreiten muss – ich sehe es eher als Bonus -, dass mich verpfuschte Händen nicht mehr so aufregen. Mir wurde aber nicht nur klar, dass ich zwangsläufig Fehler begehen werde, sondern dass mir viele unterlaufen werden. Im Internet spielt man pro Stunde zehnmal so viele Hände und man kann zehnmal so viele Fehler begehen. Vermutlich mache ich mindestens einmal pro Stunde eine Dummheit und wenn ich dann jedes Mal einen einstündigen Tilt hätte – oje, dass wäre ich ziemlich sicher permanent auf Tilt.
Es gibt aber eine Form von Tilt, mit der ich schon immer zu kämpfen habe und mit der ich bis heute nicht klarzukommen scheine. Es ist der „Widerstand-Tilt“. Er sieht so aus: Ich spiele einige Hände, in denen ich entweder mit einer brauchbaren Hand setze oder einen größeren Bluff bringe, und jedes Mal werde ich aus der Hand geraist. Ein oder zwei Folds waren vielleicht etwas schwierig oder es gab eine Situation, in der ich die Hand hätte durchchecken können, stattdessen aber in einem Check-Raise landete, der mich aus der Hand verjagte.
Gestern zum Beispiel spielte ich hintereinander die folgenden drei No-Limit-Hände:
1. Ich raise vom Button mit 87s. Ein guter Spieler im Big Blind callt. Auf dem Flop kommen 995 in zwei Farben. Er checkt, ich setze, er callt. Auf dem Turn kommt eine andersfarbige Dame. Er checkt und ich gebe mit meinem Gutshot eine zweite Salve ab. Er checkraist und ich folde ohne größere Betroffenheit.
2. Dann raise ich vom Button mit 55 und der gute Spieler reraist mich. Die Stacks sind zu klein und ich folde.
3. Dann raise ich einen schwachen Limper mit JJ. Nur der Limper callt. Auf dem Flop kommen A85 mit einem Flush Draw. Er setzt etwa zwei Fünftel des Pots und ich calle. Auf dem Turn kommt eine 4 in einer anderen Farbe. Er checkt, ich setze zwei Drittel des Pots und er checkraist. Nun bin ich schon ein wenig frustriert, folde aber.
Ich folde nicht gern, und schon gar nicht in drei mittelgroßen Pots hintereinander, in denen meine Gegner aggressiv wurden. Nun habe ich den Widerstands-Tilt und bin prädestiniert, einen großen Fehler zu begehen. Dabei entscheide ich mich vielleicht mit einem schwachen Flush Draw oder einem Paar plus Gutshot zu einer Setzfolge mit Bet, 3-Bet und All-In gegen jemanden, der ohne die Intention, ein All-In zu callen, erst gar nicht geraist hätte. Oder ich verliere meinen Stack mit Top Pair gegen ein Spektrum, das ich normalerweise als viel zu stark eingeschätzt hätte.
Ich raise also vom Cut-Off mit AKs. Nur der Big Blind callt und ich habe nach hundert Händen folgende Werte von ihm: 21/14/1,8. Er ist recht tight und nicht sonderlich aggressiv. Auf dem Flop kommen AT8 mit zwei Kreuz. Er checkt, ich setze drei Viertel des Pots und er checkraist. Ich calle. Auf dem Turn kommt eine andersfarbige 6. Er geht mit beinahe doppelter Potgröße All-In.
Das ist eine ziemlich starke Setzfolge. Vernünftigerweise kann ich ihn auf ein Spektrum setzen, das vermutlich folgende Hände enthält: AA, TT, 88, AT, A8, T8, 97, AK. Mit anderen Worten bin ich gegen den Großteil seiner Hände geschlagen und kann allenfalls auf einen Split Pot gegen AK hoffen (womit er vor dem Flop vermutlich gereraist hätte). Wäre dieser Spieler aggressiver oder ich nähme noch etwas Wunschdenken hinzu, könnte ich sein Spektrum um J 9 , Q J , 10 9 etc. erweitern. Gegen diese Hände bin ich Favorit, aber es gibt zwei Probleme:
1. Ich bin nur 65 zu 35 Favorit, während ich gegen die besseren Hände nur maximal drei Outs habe.2. Es gibt genau drei Kombinationen, also wenige. Die Wahrscheinlichkeit, dass er 88 hält, ist genauso groß wie die anderen zusammen. Und alle anderen besseren Hände sind einfach nur eine Dreingabe.
Berechnen wir meine Equity gegen sein Spektrum. Einige Hänge wie AA, AK oder 97 kann man ausschließen, da er damit wohl kaum so gespielt (sondern vor dem Flop gefoldet oder gereraist) hätte. Nehmen wir also sein realistisches Spektrum und fügen AQ dazu, damit es nicht so schlecht aussieht. Dann bin ich unterm Strich 73 zu 27 Außenseiter – eine verdammt miese Ausgangslage, wenn man eine Bet in doppelter Potgröße callen soll.
Zum Glück sind meine Fähigkeiten in der Einschätzung des gegnerischen Spektrums und meiner Equity dagegen gut genug, dass ich merkte, in großen Problemen zu stecken und bei seiner Bet als erstes dachte, ich sei geschlagen. Dann nahm ich zusätzliche Bedenkzeit. Dann ging ich seine möglichen Hände durch: „Das schlägt mich, das schlägt mich, das schlägt mich … ja, ich bin ziemlich sicher hinten.“ Wäre ich nicht auf Widerstands-Tilt gewesen, hätte ich gefoldet und keine Sekunde mehr darüber nachgedacht.
Doch zuletzt hatte ich dreimal in Folge nach gegnerischer Aggression gefoldet.
Der Widerstands-Tilt begann zu wirken. „Er könnte dich bluffen? Siehst du das nicht? Er hat beobachtet, wie du herumgeschubst wurdest, und probiert es auch. Du hast die 50 Prozent heiße Luft in seinem Spektrum vergessen. Damit ist es ein klarer Call.“ Blablabla. So ungefähr läuft Widerstands-Tilt ab. Das Gehirn sucht nach einer Ausrede, warum man diesen Showdown unbedingt sehen muss.
Ich callte, er zeigte wie erwartet AT und ich verlor.Damit das klar ist: Ein Spieler mit solchen Werten hat in diesem Fall fast nie heiße Luft. Seine Setzfolge ist sehr stark und bei seinem Check-Raise auf dem Flop muss er AK bei mir einkalkulieren. Dann geht er auf dem Turn All-In. Er hofft, dass ich AK habe und versucht, den maximalen Gewinn herauszuschlagen. Vermutlich hätte er AQ nicht so gespielt. Der Check-Raise auf dem Flop ist plausibel, aber nach meinem Call hätte er zurückgesteckt.
Die Fakten ändern sich nicht, weil ich dreimal in Folge gefoldet habe. Seine Setzfolge ist viel zu stark für einen Bluff. Und bei der ganzen Argumentation bin ich davon ausgegangen, dass er die letzten Hände beobachtet und nicht nebenher ferngesehen hat. Der Check-Raise auf dem Flop? Gewiss, den könnte man vielleicht einem Spieler zuschreiben, der gesehen hat, wie ich dreimal in Folge gefoldet habe. Aber das All-In auf dem Turn geht über die Anpassungen eines Spielers an kürzliche Ereignisse weit hinaus. Es bedeutete einfach nur, dass ich viermal in Folge in eine starke Hand gelaufen war. Und dass ich folden musste, als hätte es sich um die erste Hand der Session gehandelt.
Widerstands-Tilt ist einer meiner zähesten Gegner, das habe ich in den letzten Jahren festgestellt. In Situationen, in denen er mich zum Verlust vieler Chips zwingt, zieht mein Gehirn zunächst die richtigen Schlüsse und sagt mir, dass ich eben wieder folden muss. Doch dann gewinnt der Dämon zwei Sekunden lang die Oberhand und die Chips landen im Pot.
Ich bin sicher, dass einige von Ihnen unter der selben Form von Tilt leiden. Vielleicht können wir ihn gemeinsam besiegen.
Dieser Artikel erschien auf PokerOlymp am 18.02.2010.