Im ersten Teil dieser Serie schrieb ich, dass Online-Poker schwerer geworden ist. In diesem Teil möchte ich darauf eingehen, wie sich die Strategie beim No-Limit-Hold’em in den letzten Jahren verändert hat und warum dies ein Grund ist, dass Online-Poker “nicht mehr das ist, was es mal war”.
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Die allerersten Pokerbücher
In den Anfangsjahren des Online-Poker beschränkte sich das Wissen um Poker-Strategie bei den meisten Spielern auf reine Spielerfahrung oder eventuell die Lektüre von Doyle Brunsons Super System.
Überhaupt waren Bücher zum Thema Poker rar gesät und beschäftigten sich größtenteils damit, die Regeln zu erklären, Anekdoten zum Besten zu geben und eventuell Starthände nach Wertigkeit zu sortieren. Ein kleines Zitat aus Doyle Bronsuns Super-System zum Thema “Rushes” soll exemplarisch für die Denkart der Zeit vor dem Online-Poker und den ersten Jahren danach stehen: “Nachdem ich im No-Limit einen Pot gewonnen habe, spiele ich auch den nächsten – unabhängig von meinen Karten. Und wenn ich den gewinne, spiele auch auch den nächsten bis ich einen verliere. … Es gibt nur einen einzigen Pokerspieler von Weltklasse der nicht an diese Rushes glaubt. Nun, er liegt falsch, ebenso wie die ‘Wissenschaftler’ – und überhaupt, was verstehen die schon von Poker.”
Poker war ein Spiel bei dem selbst die besseren oder gar besten Spieler ein sehr intuitives und aus heutiger Sicht beschränktes Verhältnis zum Spiel hatten. Dinge, die heutzutage für uns selbstverständlich sind, wie zum Beispiel Equity-Rechner gab es vor 15 Jahren noch gar nicht und nur eine sehr überschaubare Menge von Personen spielte überhaupt ernsthaft Poker – viel zu wenige, als dass es sich gelohnt hätte, sich auf breiter Front um Poker-Strategien zu kümmern.
Die Erfindung des tight-aggressiven Spielstils
Erst Anfang des letzten Jahrzehnts fanden erste Strategie-Diskussionen in Online-Foren wie 2+2 oder Usenet-Gruppen wie rec.gambling.poker statt. Auch kam der größte Teil der strategisch orientierten Pokerbücher nicht vor 2004 auf den Markt. “Harrington on Hold’em” war einer der Vorreiter und ist ein (inzwischen überholter) Klassiker für Turnier-Spieler.
Die ersten strategischen Ansätze beim No-Limit-Hold’em waren damals in erster Linie darauf ausgelegt, gegen zu loose und zu passive Spieler das meiste Geld rauszuholen. Ein Großteil der Gegnerschaft setzte sich aus Spielern mit einem überragend hohen VPIP zusammen, die außerdem noch den unbändigen Drang hatten, mit jedem Draw bis zum River zu kommen und wenn möglich, mit jedem Paar den Showdown zu sehen. Entsprechend sah die Strategie dann auch aus: Man spiele tight vor dem Flop, aggressiv nach dem Flop und der Gewinn stellt sich dann von ganz allein ein.
Genügend ambitionierte Spieler hatten zwar schon Schwierigkeiten, den doch sehr einfachen tight-aggressiven Spielstil zu erlernen, doch im Grunde reichte es schon völlig aus, wenn man preflop einigermaßen gesunde Ranges spielte, um gegen die überaus schwachen Gegner massive Gewinne einzufahren.
Eine Stufe weiter: loose-aggressive
Fast schon ehrfürchtig wurde in den Jahren ‘05 und ‘06 von guten “loose-aggressive” Spielern gesprochen. Diesen war es möglich, auch gegen durchschnittliche Regulars langfristig deutlich zu gewinnen und diese konnten tatsächlich teils abenteuerliche Winrates jenseits der 20BB/100 über einen signifikanten Zeitraum erreichen. Gespielt wurde dabei eine weitere Bandbreite von Händen, diese dafür in der Regel noch aggressiver und man ging wesentlich umfangreicher auf die Tendenzen des Gegners ein.
Auf den ersten Video-Coaching-Seiten wie Cardrunners veröffentlichten ab 2005 erfolgreiche Spieler sehr freimütig teils grandiose Videos, die diesen loose-aggressiven Spielstil zelebrierten und erklärten. Unter anderem Caby “Green Plastic” Taylor und Brian “Stinger” Hastings ebneten damit den Weg, auf einem ganz neuen Niveau Poker-Strategien zu diskutieren. Angriffsziel des loose-agressiven Stils waren nicht mehr vordergründig die passiven Fische, sondern schwächere Regs. Denn da sich die Tische mehr und mehr mit ABC-Tags (i.e. schächeren Regs) füllten und auf den höheren Stakes immer weniger offensichtliche Fische zu finden waren, war es essenziell für einen erfolgreichen Spieler, möglichst auf die gesamte Bandbreite der Gegnerschaft eine Edge zu haben.
ABC-Poker und basale Strategien reichten spätestens seit Ende 2009 nicht mehr aus, um jenseits von NL200 erfolgreich zu sein. Mehr und mehr E-Books und Pokerbücher machten die Runde und mit 2+2 und PokerStrategy waren zwei monströse Foren entstanden, auf denen zum Teil auf höherem Niveau Strategie diskutiert wurde.
Noch mehr Aggressivität
Enorme Aggressivität wurde zunächst zur Mode und irgendwann in den letzten zwei Jahren auch schon auf NL50 zum Standard erhoben. Wer dieser Tage hinter einer 3-bet eine starke Range und hinter einer 4-bet KK+ vermutet, kann – zumindest shorthanded – falscher kaum liegen. Wer meint, dass Spieler nicht doppelt floaten oder auf trockenen Flops keinen 3-Barrel-Bluff bringen können, ist definitiv noch mit Strategie-Vorstellungen von 2006 unterwegs und wird es gegen gute Spieler heutzutage enorm schwer haben.
Let there be Range!von Tri Nguyen
Aktuellere Strategiebücher wie Tri Nguyens “Let there be Range!” gehen noch einen Schritt weiter und beschäftigen sich damit, wie man bestimmte Gegner mit einer bestimmten Spielhistorie am besten exploitet, wie man seinen Gegner levelt und wie man Kombinatorik benutzt, um aus der eigenen Range und der Range des Gegners den Erwartungswert eines jeden Spielzugs zu berechnen und den besten zu finden. Die Konzepte, die in diesem Buch und vielen aktuellen Strategie-Diskussionen benutzt werden, gab es vor zehn Jahren noch gar nicht oder sie waren noch lange nicht so ausgereift, wie sie es jetzt sind.
Online-Poker hat den letzten 10 Jahren eine Menge, teils hochintelligente Spieler angezogen, die in mühevoller und langwieriger Arbeit an ihren eigenen Strategien so lange feilten, bis sie eine Edge auf das Spiel hatten. Doch da ihre Gegner das selbe machen, ist dies ein fortwährender Kreislauf und quasi als Nebenprodukt entstehen Coaching-Videos, Foren-Diskussionen, E-Books und richtige Bücher, die diese Strategien und die dahinter liegenden Konzepte erläutern.
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Die Konsequenz daraus ist, dass sich die Strategien in den letzten 10 Jahren enorm verändert und entwickelt haben, auch von semi-professionellen Spielern adaptiert wurden und inzwischen auf den niedrigeren Stakes zu finden sind. Wer nicht bereit ist, viel Zeit in sein eigenes Spiel zu investieren und dabei auf aktuelle Bücher beziehungsweise Diskussionen als Denkanstöße zurückzugreifen, wird es bei der aktuellen Poker-Ökonomie schon auf NL50 verdammt schwer haben, einen Stich zu sehen. Die Zeiten, dass einfaches ABC-Poker ausreicht sind schon seit einigen Jahren passé.
Wie sich die Gegnerschaft an Tischen in den letzten Jahren entwickelt hat und warum Seiten wie PokerStrategy eine signifikante Rolle dabei spielen, dass Online-Poker in den letzten Jahren so viel schwerer geworden ist, soll im nächsten Teil beleuchtet werden.
Dieser Artikel erschien auf PokerOlymp am 25.06.2012.