Vieles spricht dafür, dass Poker kein reines Glückspiel ist: der gesunde Menschenverstand, die Mathematik, das bei diesem Spiel unerlässliche Quantum angewandte Psychologie – und seit Januar letzten Jahres auch das Landgericht Karlsruhe in einem viel beachteten Urteil.
Offenbar aber ist es nicht möglich, die prozentualen Anteile von Können und Glück beim Poker eindeutig zu bestimmen. Zumal diese für jeden Spieler zu jedem Zeitpunkt des Spieles extrem unterschiedlich sein können.
Die Aussage von Phil Hellmuth, er würde jedes Turnier gewinnen, gäbe es den Glücksfaktor im Poker nicht, führt sich selbst ad absurdum, denn dann wären die Regeln andere und es wäre ein vollkommen neues Spiel.
Das Selbstverständnis des Berufspokerspielers basiert ja auf dem Grundsatz, dass Glück und Pech jeden Menschen ungefähr gleich treffen, so dass langfristig der bessere Spieler gewinnen müsse. Mag sein. Nur: wie definiert man „langfristig“? 6 Wochen? 8 Monate? 10 Jahre? Und was kann dieses Wartenmüssen auf Spielverläufe, in denen das eigene Können seinen finanziellen Niederschlag findet, in der Praxis, in der täglichen harten Realität, bedeuten?
Ein Anti-Lauf, der sich über Wochen und Monate hält (und jeder, der über einige Jahre Poker-Erfahrung verfügt, kennt solche nicht enden wollenden Pechsträhnen), kann eine Bankroll aufzehren und zusätzlich nicht fürs Spiel vorgesehene finanzielle Mittel verschlingen.
Im Rahmen eines Turniers, das im Fernsehen übertragen wurde, erwähnte Allan Cunningham gegenüber einem Mitspieler, dass er in den letzten 18 Turnieren nicht ein einziges Mal ins Geld gekommen sei. Dass er also jedes Mal ein beträchtliches Buy-in geleistet, nie aber auch nur einen einzigen Cent zurück bekommen hatte. Wenn man nun weiß, dass Cunningham ganz ohne Zweifel einer der besten Turnierspieler der Welt ist, dann liegt es auf der Hand, dass der Grund für diese Negativ-Statistik nicht in mangelnden Fähigkeiten, sondern fehlendem Glück zu suchen ist. Dieser Super-Pro und mehrfache Bracelet-Gewinner verfügt sicherlich über eine ausreichende finanzielle Reserve, um diese Durststrecke zu überstehen. Aber man stelle sich nun einen jungen Spieler vor, der mit seinem Kapital loszieht, um Berufsspieler zu werden, jedes Mal hoffnungsfroh sein Buy-in bezahlt und dann auf eine Serie von 18 erfolglosen Wettkämpfen stößt.
Eine gängige Meinung ist: na ja, beim Turnierspiel braucht man eben mehr Glück. Dass dieselbe Misere gestandene Profis aber auch beim Cash Game erwischen kann, zeigt die kürzlich im DSF ausgestrahlte 5. Staffel von High Stakes Poker, bei der Daniel Negreanu (auch keiner der schlechtesten Spieler) nach einem ganz unglaublich anmutenden Negativlauf Verluste von mehreren 100.000 Dollar hinnehmen musste und wie ein gemaßregeltes Kind vom Tisch schlich.
Dank des Poker-Booms in den vergangenen 10 Jahre liegen mittlerweile Fallstudien von tausenden Pokerkarrieren über diesen Zeitraum vor. Neben einer kleinen Anzahl von Spielern, die weder viel gewonnen noch wesentlich verloren haben, haben sich zwei klar voneinander abgegrenzte Gruppen gebildet: die Winner und die Loser. Wobei das besonders Bemerkenswerte die Tatsache ist, dass die Zugehörigkeit zu einer der beiden Gruppen mindestens ebenso vom puren Zufall wie vom spielerischen Können entschieden worden ist.
Die positiv verlaufenen Karrieren kann man in den einschlägigen Fachzeitschriften nachlesen. Denn publiziert werden natürlich vorzugsweise jene, die mit spektakulären Gewinnen einhergingen und dazu führten, dass der betreffende Spieler oder die Spielerin in den erlauchten Kreis der Profis Eingang fanden. Von denen, die gescheitert sind (und das ist natürlich die bei weitem überwiegende Zahl) erfährt man ganz am Rande einmal in TV-Sendungen zum Thema „desaströse Folgen von Spielsucht“.
Wie viele Abertausende es davon geben muss, davon zeugen auch die Beträge, die sich beispielsweise auf den Konten der neuen Online-Poker-Multi-Millionäre angesammelt haben. Denn von irgendwem muss dieses Geld ja wohl kommen. Und dass es ausschließlich reichen Geschäftsleuten abgezockt wurde, die sich die Verluste leisten können, ist wahrlich auch nicht sehr wahrscheinlich.
Über das beim Poker ständig präsente Risiko, lange, lange Zeit einfach pures Pech zu haben, ist kaum jemals irgendwo zu hören oder lesen. Was wohl daran liegt, dass dieses Thema den Betreibern von Poker-Foren und/oder Casinos so ganz und gar nicht in ihr Vermarktungskonzept passt. Motivierende Artikel, sich ganz auf sein Können zu verlassen, sind dagegen immer und allüberall zu finden.
Jüngstes Beispiel: Sven Lucha auf der Website der „PokerFirma“ am 29. Januar 2010:„Den Lauf kann jeder Spieler bekommen. Nur je spielstärker ein Gegner ist, desto wahrscheinlicher ist dieser. Und je besser man performt, desto länger läuft der Hase in die richtige Richtung. Man kann sich sein Glück also sehr wohl erarbeiten!“
Und an anderer Stelle:„Das Glück in allen Ehren – aber alle hier genannten Spieler haben Außergewöhnliches geleistet und sind von der positiven Seite der Varianz für ihren Skill belohnt worden.“
So, so!
Einige sehr finanzstarke (und daher in der Branche sehr einflussreiche) Betreiber von Internet-Spielseiten wie PokerStars oder Full Tilt Poker werden nicht müde zu betonen, dass Poker doch alles andere als ein Glückspiel sei und veranstalten Kurse und Seminare, die jungen Spielern den Eindruck vermitteln, mit ein wenig Übung könnten sie locker der nächste Phil Ivey oder Tom Dwan werden. Bei „Learn from the Pros“, einer TV-Schule für den lernwilligen Pokernachwuchs – produziert und lanciert von Full Tilt Poker – erfährt man nahezu alles über Tells, das Bluffen, die Kunst des Setzens und die Pflege des eigenen Tisch-Images, rein gar nichts aber über die Risiken, die das Spiel mit Echtgeld birgt.
Der Pokerkommentator Markus Krawinkel (der in dieser Funktion ja auch im Sold eines Online-Forums stand) sprach bei im TV übertragenen Turnieren gerne davon, dass der Spieler X über einen sehr guten Kontakt zum Board verfüge – und meinte damit, dass dieser Spieler das Glück hatte, viele seiner Karten auf dem Flop oder auf Turn und River zu treffen. Durch diese sprachliche Verschleierung wird der Glücksfaktor im Pokerspiel in eine imaginäre Fähigkeit des Spielers verwandelt, nämlich jene „guten Kontakt zu haben“. Ein derartiges Vokabular würde man eigentlich eher im Sprachschatz spiritistischer Kreise ansiedeln, wo es bekanntlich Menschen gibt, die beste Kontakte zum Jenseits haben. Ein anderer bekannter Kommentator, Michael Körner, beschwört gerne das Walten des Pokergottes, wenn diese oder jene überraschende (weil nicht wahrscheinliche) Wendung eintritt. Auch hier ein Kaschieren der allzu harten Realität mit Metaphern, um die Ausdrücke „Glück“ oder „Pech“ zu vermeiden.
Fakt ist, dass man hart arbeiten, mental sehr gefestigt sein und mit dem Zufall dauerhaft auf sehr, sehr gutem Fuß stehen muss, um beim Poker etwas zu reißen.
Okay, Poker ist kein Glückspiel. Aber beleibe auch kein reines Geschicklichkeitsspiel.
Dieser Artikel erschien auf PokerOlymp am 05.02.2010.