Eines der kontroversesten Themen, über das ich je geschrieben habe, behandelte ich im No-Limit-Hold’em-Teil meines Buches „Getting Started in Hold’em“. Dort erläuterte ich eine Strategie, bei der man sich nur mit 20 Big Blinds, also etwa 100 $ in einer Partie mit Blinds von 2 $/5 $, einkauft. Bei dieser Strategie wartet man auf hohe Paare und Hände mit hohen Karten (auf welche genau, hängt von der Position ab), forciert diese vor dem Flop mit Raises und schiebt auf dem Flop sein restliches Geld in die Mitte. Dabei handelte es sich um eine extrem simple Strategie, doch behauptete ich im Buch, dass selbst Anfänger damit profitabel abschneiden können.
Das Buch erschien 2005 und seitdem hat sich No-Limit-Hold’em dramatisch verändert. Die heutigen Spieler sind wesentlich stärker als die damaligen. Meine Strategie beruhte darauf, dass Gegner mit 97s gegen die Buben des Shortstack-Spielers antreten und daraus Gewinne resultieren. In einigen Live-Partien mit niedrigen Einsätzen findet man heute immer noch naive Spieler, die sich darauf einlassen, doch im Internet sind die Gegner selbst auf den niedrigsten Limits zu clever, um sich von dieser Strategie über den Tisch ziehen zu lassen.
Dennoch sind Shortstack-Spieler im Internet weiterhin sehr erfolgreich. Sie wenden aber nicht mehr meine sehr einfache Anfängerstrategie an, sondern eine deutlich ausgereiftere. In diesem Artikel will ich Ihnen zeigen, wie diese Spieler mit ihren kleinen Stacks Gewinn erzielen.
Stehlen der Blinds
Meine tighte Strategie beruhte darauf, dass man mit seinen starken Händen ausbezahlt wird. Spielt man sehr tight, verliert man aber viel Geld in den Blinds. Diese Verluste muss man ausgleichen, und dazu braucht es Spieler, die die starken Hände ausbezahlen, ansonsten wird man langsam aber sicher von den Blinds aufgefressen.
Die modernen Shortstack-Spieler bewegen sich in einem zumeist tighten Umfeld. Sie reagieren darauf, in dem sie sich durch Stehlen der Blinds mehr Pots ohne Kampf sichern.
Nehmen wir als Beispiel eine 10 $/20 $-Partie mit einem Shortstack (400 $) auf dem Button an. Alle Spieler vor ihm folden und der Shortstack-Spieler raist auf 45 $ oder 50 $. Dazu muss er nicht auf eine starke Hand warten, sondern kann mit einem breiten Spektrum stehlen. In vielen Fällen werden die Blinds folden und der Shortstack-Spieler kassiert 30 $ ab.
Theoretisch sollten die Blinds gegen einen Shortstack-Spieler mit schwächeren Händen callen als gegen einen großen Stack. Je kleiner die Stacks, desto unwichtiger die Position. Demnach sind die Blinds gegen einen Shortstack-Spieler durchschnittlich weniger im Nachteil und es werden mehr Hände profitabel. Jahrelang passten sich viele Spieler nicht entsprechend an und die Shortstack-Spieler konnten besonders profitabel die Blinds stehlen.
Bei vertauschten Rollen, also dem Shortstack-Spieler in den Blinds, wissen die modernen Shortstack-Spieler, dass sie mit ihrem kleinen Stack looser als mit einem großen spielen können. Unterm Strich gewinnen die Shortstack-Spezialisten mehr mit Steals und verlieren weniger in den Blinds. Das führt zu moderaten, aber dauerhaften Gewinnen.
Mehr Fold Equity
Die Gegner von Shortstack-Spielern folden nicht nur bei Steals der Blinds, sondern auch nach All-Ins vor oder auf dem Flop. Zwar stellt ein All-In eines Stacks mit 20 Big Blinds scheinbar keine besonders große Drohung dar, doch in Wirklichkeit ist es eine schlagkräftige Waffe. Es handelt sich dabei um einen Semi-Bluff, bei dem der Shortstack-Spieler zwei Gewinnmöglichkeiten hat: Entweder er zwingt den Gegner zum Fold oder er bekommt die beste Hand. Der Caller dagegen kann nur gewinnen, indem er die beste Hand produziert. Das bedeutet, dass man mit schwächeren Händen All-In gehen als ein All-In callen kann.
Shortstack-Profis kennen die exakten All-In-Spektren eines Stacks mit 20 Big Blinds genauer als ihre Gegner mit großen Stacks. Als Folge bringen sie profitablere All-Ins und machen auch bessere Calls. Dieser Vorteil plus der Vorteil beim Stehlen der Blinds macht einen Großteil ihrer Gewinne aus.
Immanente Vorteile
Die beiden letzten Abschnitte könnte ich in einem Satz zusammenfassen. Shortstack-Profis spielen mit effektiven Stacks von 20 Big Blinds besser als die meisten Deepstack-Profis. Sie wissen mehr über die korrekten Spektren für Steals, Blind-Defense, All-Ins und Calls von All-Ins.
Shortstack-Spieler besitzen gegenüber den großen Stacks aber auch zwei immanente, strukturelle Vorteile. Erstens sind sie immer im Vorteil, wenn sie gegen zwei oder mehr Kontrahenten All-In gehen. Haben diese Gegner beide noch weiteres Geld, kann der eine den anderen zum Folden bringen und damit kostenlose Equity für den Shortstack-Spieler freisetzen.
Zweitens hat aus der Sicht des Shortstack-Spielers jeder Gegner gleich viel Geld. Seine korrekte Strategie ist somit ziemlich einfach. Für einen Spieler mit einem großen Stack ist es dagegen schwieriger, da er sich strategisch ständig neu an den jeweiligen Stack anpassen muss. Das bedeutet, dass er zwangsläufig gelegentlich Kompromisse eingehen muss, die Geld kosten. Da der Shortstack-Spieler diese Kompromisse nicht eingehen muss, besitzt er einen Vorteil.
Abschließende Gedanken
Besuchen Sie ein Internetforum zum Thema Poker, dauert es vermutlich nicht lange, bis sie auf eine Beschwerde über Shortstack-Spieler stoßen. Zugegeben, diese Beschwerden sind nicht unbegründet, denn Shortstack-Spieler genießen mehrere wesentliche Vorteile, die auf Kosten der Deepstack-Spieler gehen und gegen die diese fast nichts unternehmen können.
Mehrere Internetanbieter haben bereits strukturelle Änderungen vorgenommen, um die Chancen auszugleichen, doch selbst dann verschwindet der Vorteil der Shortstack-Spieler nie ganz.
Dieser Artikel erschien auf PokerOlymp am 04.11.2010.