Hawk Loggie war zwar nicht der größzügigste Trinkgeldgeber der Welt, aber deshalb kein schlechter Mensch. Bei den Regeln und beim Spielablauf war er absolut spitzfindig, aber auch das machte ihn nicht zu einemschlechten Menschen. In den Augen von Anna Reksic war er nur deshalb ein schlechter Mensch, weil er ihr über den Tisch zurief und sich beschwerte, dass der Dealer undankbar sei.Anna arbeitete im Casino, als sich Hawk mit einer Rolle Viertel-Dollar-Münzen blicken ließ. An allen drei Tischen im Column Down Pokersaal wurde an diesem Abend gespielt und an einem fand eine Partie Hold’em mit Blinds von 3 $/6 $ statt. Am zweiten Tisch spielten sechs alte Knacker Hollywood-Gin und am dritten Tisch lief die teuerste Partie, Omaha Hi/Lo mit Blinds von 4 $/8$.Anna war Stammgast, das heißt, dass sie in jeder Woche an einigen Tagen Dealerin war, an anderen Floorwoman und an denb restlichen spielte sie selbst. Anna bestand nur aus Haut und Knochen.
Die Omaha-Hi/Lo-Partie hatte gerade begonnen, als Hawk das Casino betrat. Anna bot ihm den letzten freien Platz an. Er erwiderte, „Den nehme ich“ und setzte sich. Niemand kannte den lebhaften Fremden. Hawk richtete eitel den Kragen seiner Joggingjacke, mit einem spöttischen Lächeln wie Elvis. Das Oval stand unter Spannung. Er setzte seine große Sonnenbrille mit beiden Händen bedächtig auf und sah aus wie ein Insekt. Die Spannung stieg. Hawk holte eine Rolle Viertel-Dollar-Münzen hervor und knallte sie lässig auf den Tisch.
Denken Sie an Captain Ahab und Moby Dick. Denken Sie an Richard Nixon und alle Mitglieder der Kennedy-Sippe. Denken Sie nun an die Oakland Raiders und an alles andere. Bereits jetzt war die Spannung am Siedepunkt. Und Anna beobachtete die Szenerie.
Der Big Blind war zwei Plätze zur Rechten von Hawk. Während des Mischens fragte der Dealer Hawk, ob er mitspielen wolle. Hawk fragte, „Ist es kostenlos, wenn ich nach dem Button einsteige?“ Der Dealer stimmte zu. „Natürlich warte ich dann“, sagte Hawk mit etwas bissigem Tonfall. „Kann ich kostenlos von diesem Kaffee trinken?“ fragte er dann und der Dealer nickte. Hawk holte sich welchen.
Er kam zurück und schaute sich einige Hände an. Alle Spieler schauten sich jeden Flop an. Im Cut-Off spielte Hawk seine erste Hand. Die anderen Spieler sahen, wie Hawk vor dem Flop foldete. Verschwenderischer Umgang mit einem perfekten Platz, dachten sie.
In der nächsten Hand hatte Hawk Ax Qx 9x 4x , wobei die Dame und die Neun gleichfarbig waren. Nicht schlecht, aber immer noch nicht gut genug. Erneute foldete er.
In der nächsten Hand hatte er ein Ass und eine Zwei und limpte wie alle anderen. Der Spieler auf dem Button hatte ebenfalls ein Ass und eine Zwei und teilte sich mit Hawk die untere Hälfte des Pots, weshalb Hawk ein Viertel eines mittelgroßen Pots zustand. Der Dealer teilte den Pot in zwei identische Hälften. Die eine Hälfte schob er dem Sieger der oberen Hälfte zu. Dann teilte er die andere Hälfte, worauf ein Chip übrig blieb. Diesen schob er dem grauhaarigen Mann auf dem Button zu, bevor er die gleichgroßen Stapel verteilte.
Hawk erhob seine Stimme. „Moment. Ich hatte die schlechtere Position. Ich müsste den übrigen Chip bekommen und nicht er.“
Der Dealer wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, aber dann hielt er abrupt inne, als er sah, dass Anna hinter Hawk stand. Anna hielt ihre Zeigefinger vor die Lippen und bedeutete dem Dealer, still zu sein. Hawk war nicht bewusst, dass Anna hinter ihm stand. Als ob sie gerade an den Tisch gekommen sei, sagte sie, „Kann ich behilflich sein?“
“Ja”, erwiderte Hawk. „Vielleicht können Sie mir erklären, warum nicht ich den übrigen Chip von diesem Pot bekomme.“
Anna antwortete, “Hier draußen gelten andere Regeln.“ Das stimmte. “Zum Beispiel bekommt bei einer geteilten unteren Hälfte der Ältere den übrigen Chip.“ Auch das stimmte. Hawks Gesicht verdunkelte sich. Anna fuhr fort, “Ich weiß, ich weiß, das ist Blödsinn. Trotzdem. Wir sollten vielleicht konformistischer sein, wenn ein Passant vorbeikommt.“
„Nun ja“, meinte Hawk, „diese Regel ist Unsinn, Sie sollten sie ändern.“
“Da haben Sie absolut Recht”, antwortete Anna, “seit fünf Jahren versuche ich den Besitzer davon zu überzeugen, sie zu ändern.“ Das war eine Lüge und außer Hawk wussten es alle. Hawk war von Annas Kompetenz beeindruckt. Hawk stellte sich sogar vor, ihr am Ende des Abends ein Trinkgeld zu geben, wenn er genug gewinnen würde.
Der Spieler, der die obere Hälfte gewonnen hatte, schob dem Dealer drei Ein-Dollar-Chips hin. Der Spieler, der sich die untere Hälfte mit Hawk geteilt hatte, gab einen Chip Trinkgeld. Hawk nahm seine Rolle Viertel-Dollar-Münzen und brach diese an seiner Stuhllehne auf. Er ließ einige Viertel-Dollar-Münzen hinter seinen Chip-Stapel plumpsen und schob zwei davon dem Dealer zu. Der Dealer klopfte damit zweimal auf seinen Chiptray und bedankte sich, aber jeder wusste, dass er es nicht so meinte, auch Hawk.
In der nächsten Hand gab es einen Raise und einen Reraise vor dem Flop und alle Spieler waren im Pot außer Hawk. Am Ende befanden sich mit lauter 1-Dollar-Chips über 200 Dollar im Pot. Zwei Stammgäste teilten sich den Pot, wobei der eine die obere Hälfte und der andere die untere gewann. Der Dealer schob jedem Spieler vier große Stapel mit Chips zu. Dann teilte er den übrigen Stapel in zwei Stapel á 12 Chips und schob sie den beiden Gewinnern zu. Der eine Stammgast halbierte diesen und schob die Chips dem Dealer als Trinkgeld zu. Der andere gab den gesamten letzten Stapel als Trinkgeld, also 12 Dollar. Der Dealer bedankte sich, als sei nichts Außergewöhnliches vorgefallen und legte die Chips in seinen Tray.
Hawk hatte dies beobachtet und es hatte ihm kein bisschen gefallen. Er hielt dies für einen Trinkgeld-Wettkampf.
Dann kam es zu folgender Hand. Hawk hielt A Kx 6x 3 . Auf dem River mit der 2 traf er perfekt und gewann mit der Nut Low und dem Nut Flush den gesamten Pot. Der Dealer schob den gesamten Pot in vier Schüben zu Hawk, immer mit beiden Händen zwei Stapel zugleich. Normal hätte Hawk bei einem solchen Pot einen Dollar Trinkgeld gegeben. Aber er fühlte sich momentan derart großartig, weil er die Zwei getroffen hatte und gab deshalb 6 Viertel-Dollar-Münzen, sprich 1 Dollar 50, Trinkgeld.
Der Dealer griff sich eine Viertel-Dollar-Münze und ließ sie aus 15 Zentimetern Höhe in seinen Chiptray fallen. Genauso machte er es mit den anderen, nur bei der letzten klopfte er einmal auf seinen Tray und sagte, ohne seinen Abscheu zu verhehlen, „Danke, mein Herr.“
Hawk war wütend. Sehr wütend. Fassungslos wütend. Wie eine Bedienung hatten Dealer auf gar nichts ein Anrecht und sie sollten für jedes Trnkgeld dankbar sein. Wie kann dieser Dealer es wagen, sich mir gegenüber so zu verhalten? Verdammte Dealer.
Während es in ihm schwärte, foldete Hawk die nächsten Hände. Schließlich konnte er sich nicht mehr beherrschen. Er sah Anna vorbeikommen und wusste, sie würde ihn verstehen. Er wusste, dass sie angemessen reagieren würde. Er hatte in beiderlei Hinsicht Recht.
Hawk berührte Annas Arm, als sie vorüberging. „Ich möchte mich offiziell beschweren“, sagte er förmlich. Die Spieler und der Dealer entspannten sich ein wenig. Sie wussten, dass Anna die richtige Antwort für diesen Mann parat hatte.
“Worüber?” fragte Anna. Anna hatte bereits realisiert, dass die anderen Spieler Hawk für einen Mutanten hielten. Einen Schandfleck. Er war nicht von Natur aus böse, sondern erschreckend anders. Aber nun wollte er den gesamten Pokersaal gegen sich aufbringen und dies konnte sie auf keinen Fall zulassen.
Hawk schob mit einer Hand seine Sonnenbrille aus dem Gesicht und offenbarte seine Jugend. Er erzählte Anna exakt alles über den Verlauf der Hand, das Trinkgeld, die fallengelassenen Chips und das künstliche Dankeschön.
Anna antwortete, “Ich möchte sichergehen, alles richtig verstanden zu haben. Sie haben einen ganzen Pot gewonnen, dem Dealer anderthalb Dollar Trinkgeld gegeben und er war unfreundlich und unverschämt zu Ihnen?“
“Genau”, sagt Hawk.
Anna setzte das freundlichste Gesicht auf, das ihr zur Verfügung stand und sagte, „Wie groß war denn der Pot?“
Dieser Artikel erschien auf PokerOlymp am 09.04.2009.