Jeder, der eine gewisse Zeit Poker gespielt hat, kennt es. Der Idiot da hinten trifft mit seinem Müll zwei Paare und gewinnt den riesigen Pott gegen unsere Asse. Ein Coinflip geht j-e-d-e-s-m-a-l zu unseren Ungunsten aus. Wie soll man da ruhig bleiben? Wir gewinnen keinen einzigen Showdown, irgendwann müssten wir doch „gerechterweise“ dran sein. Man beginnt, anders zu spielen, als man es eigentlich sollte, um Verluste wieder auszugleichen oder weil die Leute doch eh so schlecht sind. Tilt!
Wie erkennt man ihn und was kann man dagegen tun?
Es passiert oft, viel zu oft, dass ich meine Chips als haushoher Favorit in die Tischmitte schiebe, nur um sie am Ende den Pott ans andere Tischende wandern zu sehen. Passiert das einige Male hintereinander, kann der Ärger überhand nehmen. Tilt heißt nicht, dass ich „uuuaaaaaaah“ schreie und preflop mit 93o all-in gehe. Tilt heißt, dass ich augenblicklich einfach nicht mein bestes Spiel bringe. Zuerst merke ich es gar nicht, aber die marginalen Karten, die ich eigentlich erst eine Position später spiele, lachen mich auf einmal so vielversprechend an. Dann floppe ich Top Pair, und es kann ja gar nicht sein, dass der andere schon wieder bessere Karten hält. Sein Raise im Turn könnte doch diesmal auch ein Bluff sein…
Hinterher wird mir klar, dass ich die Hand mit klarem Kopf diszipliniert gefoldet hätte.
Poker ist kein einfaches Spiel. Die Rake ist hoch und die Karten sind ungerecht. Ein Fehler, den man leicht machen kann, ist zu denken, dass die anderen Spieler sowieso zu schlecht sind und man mehr oder weniger irgendwie agieren kann, um an ihr Geld zu kommen. Das stimmt nicht. Zuerst einmal ist die Rake zu schlagen, und erst das, was man den anderen Leuten am Tisch darüber hinaus abnimmt, kann als Gewinn verbucht werden. Wenn man unkonzentriert ist und die Nuancen nicht beachtet, dann verliert man schnell den kleinen Vorteil, den man hat. Eine große Schwierigkeit im Poker besteht darin, zu erkennen, wann man nicht mehr optimal spielt und keinen Vorteil mehr am Tisch besitzt.
Für den langfristigen Erfolg ist es maßgeblich, so gut wie immer konzentriert auf der Höhe des Geschehens zu sein. Zu oft habe ich abends nach einem netten Billardabend mit ein paar mehr oder weniger hochprozentigen Lustigmachern noch ein Set gestartet, weil mir das Spiel ja Spaß macht. Aber dann sollte ich nicht erwarten, mit eingeschränktem Blickfeld hohe Limits schlagen zu können.
Wie kann man nun erkennen, ob man in der geeigneten Verfassung ist, um viel Geld zu zocken? Und was tun, wenn man merkt, dass es um die psychische und nervliche Verfassung nicht mehr zum Besten bestellt ist?
Zuerst einmal kann es nie falsch sein, nicht zu spielen.
Mir selbst hilft es, zur Selbsteinschätzung zwei Partien Schach online zu blitzen. Habe ich mit schwächeren Gegnern Probleme, dann bin ich nicht 100% da. Schlage ich dagegen ähnlich gewertete Gegner locker, dann kann ich beruhigt zum Pokern übergehen.
In der Hitze des Gefechts helfen Tricks, die die Aufmerksamkeit von den üblen Geschehnissen ablenken, z.B. das Aufsagen der eigenen Telefonnummer rückwärts oder andere intellektuelle Spielereien. Dadurch zwingt man sich rational, nicht emotional vorzugehen.
Neben dem Tilt, der aus einem schlechten Lauf erwächst, gibt es übrigens auch das Gegenstück – einen Tilt, weil es zu gut läuft. Man wird überheblich und verschwendet Chips, weil man eh schon so viel gewonnen hat. Da kommt es darauf ja nicht an, und im Zweifelsfall würde man ohnehin Glück haben. Dieser Trugschluss kann den Gewinn erheblich schmälern und die Kompensation der Verluststrähnen unmöglich machen.
Daher wünsche ich Ihnen und mir, dass wir immer einen kühlen Kopf bewahren, unabhängig davon, wie es gerade läuft.
Martin Voigt
Dieser Artikel erschien auf PokerOlymp am 07.02.2007.