Sie beteiligen sich an einer Partie mit zehn Spielern und Blinds von 1 $/2 $ in Ihrem heimischen Casino. Die Partie ist schon eine Weile im Gang. Zwei Spieler haben riesige Stacks vor sich und zwei weitere nur noch wenige Chips. Wie viele von Ihren neun Gegnern sind im Schnitt auf Tilt?
Ich würde davon ausgehen, dass alle neun auf Tilt sind. Jawohl. Meiner Meinung nach sind in diesen Partien alle Spieler, die mindestens eine halbe Stunde am Tisch sitzen, auf Tilt.Sie finden das lächerlich? Definieren Sie Tilt ausschließlich so, dass jemand einen großen Pot verliert und dann durchdreht, ist es tatsächlich lachhaft, anzunehmen, jeder wäre auf Tilt. Meine Definition von Tilt geht aber weiter. Ich glaube, man ist auf Tilt, wenn man zulässt, dass seine Entscheidungen erheblich vom emotionalen Zustand beeinflusst werden. Unter dieser Prämisse ist fast jeder Pokerspieler auf Tilt.
Das ist der Grund dafür. Jeder Spieler, der einen ernsthaften Betrag verloren hat, ist vermutlich auf Tilt. Die Zahl der Spieler, die verlieren und das vollständig kalt lässt, ist sehr gering. In einer normalen Partie mit Blinds von 1 $/2 $ gibt es wahrscheinlich keinen.Dann gibt es die Spieler, die in der Session ein ungefähr ausgeglichenes Ergebnis haben.
Dafür gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder bekommt man keine Karten und ist permanent am Folden. Oder man spielt Pots und landet nach mehreren Aufs und Abs da, wo man die Session begann. Ständiges Folden ist frustrierend. Aufs und Abs auch. Je länger so jemand in einer Pokerpartie sitzt, desto frustrierter ist er vermutlich. Frustrierte Spieler neigen dazu, die Geschehnisse mehr zu beschleunigen als auf gute Gelegenheiten zu warten.
Schließlich gibt es noch die Gewinner. Gewinner können nicht auf Tilt sein, oder? Natürlich können sie und sie sind es in der Regel auch. Sie neigen zu dem, was ich Happy Tilt nenne. Ihnen ist vom Stapeln der vielen Chips so schwindlig, dass sie nicht mehr klar denken können. Hier die Anzeichen für Happy Tilt:
Spieler auf Happy Tilt fangen an, mehr Hände als sonst zu spielen. Haben Sie schon einmal live gespielt, kennen Sie das. Jemand gewinnt einen riesigen Pot und spielt dann mit einem riesigen Stack vor der Nase die nächsten fünf Hände. Während dieser Phase braucht er für seine Spielzüge dreimal so lang, weil er nebenbei seine Chips stapeln muss und erst dann seine Entscheidung fällen kann.
Foldet er? Nie. Vermutlich habe ich eine Hand in meiner Karriere erlebt, in der ein Freizeitspieler nach einem gewonnen Monsterpot die nächste Hand gefoldet hat. (Regelmäßige Spieler sind da etwas besser.) Viel wahrscheinlicher ist, dass dieser Spieler callt, ohne vorher seine Karten anzusehen, als dass er foldet, nachdem er sie angeschaut hat.
Das ist Happy Tilt. Da der Spieler so viel gewonnen hat, macht es ihm scheinbar nichts aus, in der nächsten Hand einen der gewonnenen Chips wieder einzusetzen. Und in der übernächsten. Und in der überübernächsten.
Diese Spieler callen auch mit mehr Händen Raises und Reraises. Die Euphorie eines großen Gewinns bestärkt sie, so lange wie möglich dabeizubleiben.
Eine Methode, um dies auszunutzen, ist, in Position mit mehr Händen zu raisen und vor allem zu reraisen. Ist ein solcher Spieler bei Blinds von 2 $/5 $ bereit, die meisten Hände für 80 bis 100 $ zu spielen, reraise ich ihn mit hohen und mittleren Paaren, Assen bis AT und KQ. Auf dem Button erweitere ich mein Spektrum sogar noch um einige Hände. Vermutlich gefällt es Ihnen nicht sonderlich, mit KQ vor dem Flop einen 200 $-Pot zu spielen, aber gegen jemand, der ohne Position mit K2o oder Q2o callt, sollten Sie Ihr Geld definitiv setzen.
Spieler auf Happy Tilt agieren vor dem Flop in der Regel deutlich looser. Nehmen wir an, ein schlechter Spieler gewinnt einen riesigen Pot, weil er auf dem River einen riesigen Bluff mit Second Pair entlarvt hat. In der restlichen Session wird er vermutlich noch öfter als sonst callen. Vor dem Flop callt er mit allem, hohe Turn-Bets mit einem Paar Zweien. Auf dem River callt er zwar nicht immer, aber wenn er „das Gefühl“ hat, dass jemand blufft, wird er nicht zögern, ein All-In mit einem dürftigen Paar zu callen. Schließlich war ein großer Call dafür verantwortlich, dass er sich gut fühlt, daher wird er in einer anderen Situation kaum davor zurückschrecken.
Spieler auf Happy Tilt callen aber nicht nur öfter. Bluffen sie gern, bluffen sie öfter, häufig in lächerlichen und hoffnungslosen Fällen. Überschätzen sie Top Pairs und Overpairs auf koordinierten Boards, verstärkt sich diese Tendenz. In Situationen, in denen sie vor dem Happy Tilt vermutlich nur gecallt hätten, wie mit einem Paar Damen auf einem Board mit drei Karten einer Farbe oder drei zusammenhängenden Karten, raisen sie jetzt und versuchen, ins All-In zu gelangen.
Nutzen Sie diese Veränderungen mit den offensichtlichen Methoden aus. Callt ein solcher Spieler öfter, sollten Sie mit schwächeren Händen mehr Value Bets bringen. Spielt er vor dem Flop zu viele Hände, sollten Sie mit Ihren starken Händen noch mehr Gas geben. Und in allen Fällen sollten Sie weniger bluffen, denn Spieler auf Happy Tilt sind dafür die ungeeignetsten Kandidaten.
Happy Tilt kann heimtückisch sein. Sind Sie deutlich vorne, fühlen Sie sich gut. Sie fühlen sich scharfsinnig. Sie haben nicht das Gefühl, Sie wären nicht mehr Herr Ihrer Sinne. Das kann aber durchaus sein. Ich selbst hatte auch Probleme mit Happy Tilt und habe sie so gelöst: Ich machte das genaue Gegenteil dessen, was Spieler auf Happy Tilt tun. Ich wurde vor dem Flop tighter. Dann spielte ich mehr ABC-Poker als sonst. Auf Flops, die ich nicht getroffen hatte, foldete ich mehr. Ich brachte weniger Continuation Bets, bluffte weniger und machte weniger Hero-Calls. Ob bewusst oder unbewusst scheinen Spieler davon auszugehen, dass jemand mit einem großen Stack Zirkus macht. Indem ich nach einem großen Gewinn tighter werde, vermeide ich die Nachteile des Happy Tilt und werde mit meinen guten Händen gleichzeitig ausbezahlt. Haben Sie auch Probleme mit Happy Tilt, empfehle ich Ihnen diese Anpassungen sehr.
Zurück zu der Partie, in der alle zehn Spieler auf Tilt sind. Die Verlierer sind wütend und frustriert und haben Angst, nie einen River heil zu überstehen. Die Spieler mit ausgeglichenem Ergebnis sind gelangweilt, frustriert und wollen Action. Und die Gewinner fühlen sich unangreifbar und werfen mit Chips um sich. Niemand sieht die Sache nüchtern, nur der Spieler, der gerade Platz genommen hat.
Poker. Es ist ein Teufelskreis.
Dieser Artikel erschien auf PokerOlymp am 19.05.2011.